Unveröffentlichtes Vorwort zur Autobiographie von Birgit Fritz
Die vorliegende Autobiographie ist die Geschichte einer Menschwerdung, das Leben Boals Antwort auf die Herausforderungen seiner Zeit.
Brasilien-Liebhaber_i
nnen eröffnet der Text einen wunderbaren Einblick in die Künstlergeneration rund um Boal und das Arena Theater von São Paulo in den 1960er Jahren, in denen u.a. Maria Bethânia, Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa uvam. die ersten Schritte ihres Bühnenlebens erlebten. Die internationale Avantgarde jener Zeit (Sartre und Beavouir, Richard Schechner, Julian Beck, Judith Malina, Jack Lang, Arthur Miller) gehörten ebenso zum Bekannten- und Freundeskreis Boals, wie Abdias do Nascimento, Paulo Freire und Darcy Ribeiro: Menschen, die maßgeblich an der Geschichte Brasiliens nach der Zeit der Diktatur mitgearbeitet haben und deren Lebenswerk, jedes für sich, als richtungsweisend gelten kann.
Darüberhinaus finden sich unzählige Impulse und Hinweise für weitere Recherchen rund um eine wichtige Zeit des Umbruchs, vom Kalten Krieg bis zu den aktuellen Herausforderungen einer Globalisierten Welt, sowohl auf der Ebene der Kunst als auch der einer Suche nach einem dynamischen sozialen Frieden in der Welt.
In der 2001 erstmals erschienenen Autobiografie reflektiert Boal die faszinierenden Stationen seines Lebens, die Geschichte der Migration seiner Eltern, Kindheit und Wendepunkte seiner Lebensgeschichte, die weltweit Tausende dazu inspirierte sich an seinen Theatervorschlägen zu versuchen und auf diesem Weg ihre Autonomie und EigenArt zu erlangen. Boal, der Künstler, Boal der Lehrer.
Boal wollte in seiner Kunst immer eine Antwort auf Lebensfragen finden, sei es in seiner Beschäftigung mit den Klassikern, wie z.B. Machiavelli als auch im Kontext des revolutionären Volkstheaters, der Alphabetisierungskampagnen oder der Volkskulturzentren Paulo Freires.
In seiner Arbeit findet sich das Theater, das wir aus Theaterhäusern kennen, in eng verschlungenener Umarmung mit einem Theater für alle Menschen, der Lebensschule des Theaters der Unterdrückten.
Seine Liebe zur ‚klassischen’ Theaterarbeit, der Regiearbeit und der Theaterschriftstellerei opferte er mit fortschreitendem Alter der Hingabe seiner theaterpädagogischen Menschenrechtsarbeit, jedoch nicht, um Menschen zur Demokratie zu ‚erziehen’, sondern um Räume zu eröffnen, in denen jeder und jede dazu angehalten wird seinen eigenen Platz einzunehmen, sich zu behaupten und sein Leben zu gestalten. Dabei hatte er immer auch einen kritischen Blick auf sein eigenes Menschsein.
In der Grundsatzerklärung des Theaters der Unterdrückten steht als oberstes Ziel dieses Theaters, die Humanisierung der Menschheit.
Viele haben sich an ihr versucht, viele sind gescheitert, dabei umgekommen, viele Opfer wurden und werden zu jedem Zeitpunkt weltweit für Menschlichkeit gebracht, Leben dabei ausgelöscht.
Folter, Flucht, Exil. Generationenübergreifende Auswirkungen diktatorialer Regime und ihre Aufarbeitung. Nomadentum, Migration. Asyl. In einem globalisierten Kontext verändern sich die Benennungen, die faschistische Diktaturen werden vom Faschismus einer brutalen und außer Kontrolle geratenen Marktwirtschaft abgelöst.
Die Ereignisse rund um den arabischen Frühling seit 2010 sowie höchstaktuell die Proteste rund um den Taksim Square in Instanbul im Juni dieses Jahres werfen Fragen auf, mit denen auch Boal in den 1960er und 1970er Jahren konfrontiert war: Fragen des Überlebens, Fragen der Solidarität und Fragen nach langfristigen, nachhaltigen Möglichkeiten zur Veränderung von Gesellschaften. Boal dessen Motto Peace, never Passivity! war, würde es um jedes einzelne Menschenleben leid tun.
Können Künstler_innen Akteur_innen der Veränderung sein? Sich dieser Frage stellend, werden schöpferische, künstlerische Prozesse metaphorisch zur Kampfkunst, im Innen und im Außen, das Individuum als Teil eines gesellschaftlichen Kollektivs im kontinuierlichen Widerstreit mit der Gesellschaft.
Boal rein marxistisch zu deuten greift zu kurz. In einer sich veränderten Gesellschaft - schon Boal und seine Gefährt_innen scheiterten auf ihrer Suche nach dem vielgerühmten „Volk“ - muss Unterdrückung immer wieder neu definiert werden, die Arbeiterklasse als Katalysator, vielerorts abgelöst von, wie Guy Standing[1] von der Universität von Bath es ausdrückt, dem Prekariat, einer neuen kritischen Gesellschaftsschicht. Um Arbeit zu erhalten, muss zuvor einmal schon unentgeldlich gearbeitet werden, ständig auf der Suche nach neuen Aufträgen, netzwerkend ‚darüber hinaus’ arbeitend, Berichte und Anträge schreibend, sich ständig Zusatzqualifikationen erwerbend unterwegs, wird Freizeit abgewertet, werden Menschen zu erschöpften passiven Konsumenten, im Dialog mit (Fernseh-)Bildschirmen. Zeitstress ist einer der größten unterdrückerischen Faktoren unserer modernen westlichen Welt und ein wesentlicher Machtfaktor.
Boals Lebensweg wirkt als Beispiel, als Spiegel für den Menschen auf der Suche nach seinem Sinn innerhalb seines spezifischen Kontexts. Seine Theaterarbeit für alle Menschen ist Vergrößerungsglas, unter dem gesellschaftlich wirksame Mechanismen analysiert und verändert werden können; darüber hinaus verlangsamt sie Prozesse und gibt Raum zur Bewusstwerdung. Dies ist heute genauso relevant wie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.
Kunst wird in ihrer Funktion der Erhaltung und Renovation von Gesellschaften gelebt.
Boal, für den gesellschaftlicher Aktivismus im Sinne eines Handelns für Veränderung immer schöpferische Herausforderung war, plädiert nicht für militanten Aktivismus, sondern vielmehr für ein symbolisches Denken, welches grundlegend die Einstellung verändern kann. Dafür ist das Theater als „Mutter aller Künste“ das für ihn hervorragendste Element. Letzendlich hat es die Fähigkeit mit dem Leben zu verschmelzen womit dieses zum Kunstwerk wird und Transzendenz erreicht.
Viva Boal!
Wien, 2013
[1]Standing, Guy, 2011, The Precariat, The New Dangerous Class, Bloomsbury, London, New York.